1. Sinfoniekonzert:
Ives / Bray / Smetana:
Mi 23 10 2024:
Foto: Kerstin Schomburg
Programm:
Charles Ives: „The Unanswered Question“
Charlotte Bray: „Germinate“ (Deutsche Erstaufführung)
Bedřich Smetana: „Má vlast“ („Mein Vaterland“)
Der neue Generalmusikdirektor Leo McFall hat für sein erstes Konzert am Pult des Hessischen Staatsorchesters ein Programm zusammengestellt, das „wie ein einziges großes Crescendo“ (McFall) verläuft. Es beginnt mit den fragmenthaften Klangwelten von Charles Ivesʼ „The Unanswered Question“. Das Werk für Flötenquartett, Trompete und Streicher gehört heute zu den bekanntesten Kompositionen des Amerikaners. Drei eigenständigen Klangwelten überlagern sich und öffnen einen musikalischen Raum für die „ewige Frage nach der Existenz“ (Ives). Das kurze zeitgenössische Orchesterstück der 1982 geborenen britischen Komponistin Charlotte Bray mit dem Titel „Germinate“ – „keimen“ – hatte erst im Jahr 2019 Uraufführung. Die kleinen musikalischen Zellen, die darin zu einem Dialog zwischen Klaviertrio und Orchester anwachsen, stammen aus Ludwig van Beethovens Tripelkonzert für dieselbe Besetzung. In Bedřich Smetanas Hommage „Má vlast“ wird eine Reise durch Orte und Mythen seines titelgebenden „Vaterlandes“ unternommen. Sie führt entlang der Moldau über Wiesenlandschaften und durch Wälder, vorbei an Festungen und durch Schlachten. Selten in Gänze gespielt, erklingt die sinfonische Dichtung hier anlässlich des 200. Geburtstags des tschechischen Nationalkomponisten.
Charlotte Bray: „Germinate“ (Deutsche Erstaufführung)
Bedřich Smetana: „Má vlast“ („Mein Vaterland“)
Der neue Generalmusikdirektor Leo McFall hat für sein erstes Konzert am Pult des Hessischen Staatsorchesters ein Programm zusammengestellt, das „wie ein einziges großes Crescendo“ (McFall) verläuft. Es beginnt mit den fragmenthaften Klangwelten von Charles Ivesʼ „The Unanswered Question“. Das Werk für Flötenquartett, Trompete und Streicher gehört heute zu den bekanntesten Kompositionen des Amerikaners. Drei eigenständigen Klangwelten überlagern sich und öffnen einen musikalischen Raum für die „ewige Frage nach der Existenz“ (Ives). Das kurze zeitgenössische Orchesterstück der 1982 geborenen britischen Komponistin Charlotte Bray mit dem Titel „Germinate“ – „keimen“ – hatte erst im Jahr 2019 Uraufführung. Die kleinen musikalischen Zellen, die darin zu einem Dialog zwischen Klaviertrio und Orchester anwachsen, stammen aus Ludwig van Beethovens Tripelkonzert für dieselbe Besetzung. In Bedřich Smetanas Hommage „Má vlast“ wird eine Reise durch Orte und Mythen seines titelgebenden „Vaterlandes“ unternommen. Sie führt entlang der Moldau über Wiesenlandschaften und durch Wälder, vorbei an Festungen und durch Schlachten. Selten in Gänze gespielt, erklingt die sinfonische Dichtung hier anlässlich des 200. Geburtstags des tschechischen Nationalkomponisten.
Bedřich Smetana: Gar nicht progressiv genug
Musikwissenschaftlerin Ivana Rentsch über den missverstandenen Nationalkomponisten und sein großes Vorbild Richard Wagner
Katja Leclerc
Was interessiert Sie an Bedřich Smetana und an seiner Musik?
Ivana Rentsch:
Dass man Smetana trotz seiner hohen Bekanntheit ganz neu entdecken kann! Und das gilt auch für seine Musik. Mit der Bezeichnung „Vater der tschechischen Musik“ ist noch lange nicht alles über ihn gesagt. Dieses volkstümliche, harmlose Bild ist unzulänglich. Er war ein durch und durch politischer Mensch. Und er war ein Vertreter von neuen Ideen, die durch Richard Wagner angestoßen wurden. Smetana hatte Wagners 1850 erschienene Schrift über „Das Kunstwerk der Zukunft“ gelesen, eine Streitschrift für eine neue Form der Kunst, die aus dem Zusammenspiel der einzelnen Disziplinen erst entsteht. Wagners Text mit seinen gesellschafts- und religionskritischen Untertönen hatte großen Einfluss auf Smetana; in diesem Geist sollte ein modernes, experimentelles Werk entstehen. Smetana ist ohne den Austausch mit anderen Künstlern außerhalb Tschechiens nicht denkbar.
Katja Leclerc
Und doch sah Smetana sich als Verfechter der tschechischen Sache. Wie ist das in Einklang zu bringen?
Ivana Rentsch:
Wer Smetana als Nationalisten bezeichnet und damit einen Konservativen meint, der liegt falsch. Smetana stand für die Entwicklung eines modernen Musiklebens und erhoffte sich von der Bewegung für ein emanzipiertes Böhmen und Mähren , dass sie von einem fortschrittlichen, intellektuellen Bürgertum getragen würde. Mit diesen Aussichten kehrte er 1861 von Göteborg zurück nach Prag – und besuchte auf dem Weg noch Franz Liszt, dessen progressive Tonsprache er seit Jahren bewunderte und mit dem er in Briefkontakt stand. Liszts Sinfonische Dichtungen inspirierten Smetana indirekt noch Jahre später für „Ma vlást“. Smetana war allgemein in den aktuellsten künstlerischen Strömungen sehr bewandert. Er dirigierte zehn Jahre lang fast täglich unterschiedlichstes Repertoire, Sinfonik und französische, italienische und vor allem deutsche Oper. Wenn er später seine ambitionierteren Opern schreibt und die Sinfonischen Dichtungen, dann entsteht das auf der Folie dieser europäischen musikalischen Strömungen. Smetanas Schaffen ist eigentlich eine Positionierung zum europäischen Musikleben. Doch er etikettiert das als tschechisch.
Katja Leclerc
Hat die neue tschechische Identität, wie Smetana sie verfolgt, also eigentlich einen kosmopolitischen Kern?
Ivana Rentsch:
Das ist das Paradoxe. Zum Wagner-Jubiläum 2013 haben wir einen Forschungsband veröffentlicht, der in musikalischen Nationalbewegungen europaweit zeigt: Egal wo Sie hineinstechen – in Spanien, Portugal, Brasilien oder auch in Böhmen: Das Modell ist Wagner. Durch die jeweilige Landessprache wird es dann typisch. Der Kern des deutschen Musikdramas ist die deutsche Sprache. Das können Sie auf alle anderen Sprachen übertragen. Insofern ist jede Nationalbewegung kosmopolitisch.
Katja Leclerc
Und wie verfährt Smetana im Besonderen?
Ivana Rentsch:
Smetana ist bemüht, die Modernität des tschechischen Volkes auf künstlerischer Ebene unter Beweis zu stellen. Tschechisch wird es im Grunde nur dadurch, dass es in Böhmen stattfindet. Und durch die tschechischen Stoffe, derer er sich bediente, weil sie in der Luft lagen. Die couleur locale lebt von der spezifischen Zuschreibung. Das Mittel dazu ist der Mythos. Erst später stellte sich heraus, dass die Mythen um die legendäre Fürstin Libuše und um Šárka, deren Geschichte im gleichnamigen Teil von „Ma vlást“ behandelt wird, nicht tief in der tschechischen Geschichte verankert waren. Es handelte sich um sehr gut gemachte Fälschungen von mittelalterlichen Quellen. Das wusste Smetana jedoch nicht.
Katja Leclerc
Mitten in der Komposition von „Ma vlást“ wurde Smetana taub. Er hatte einen starken Tinnitus und schreckliche Kopfschmerzen, und seine Ärzte rieten ihm von der Musik ab. Sie betonen seine Progressivität, die damit ein jähes Ende fand. Welches wäre die Komposition gewesen, die Smetana noch hätte schreiben wollen?
Ivana Rentsch:
Man kann ihn sich nicht progressiv genug vorstellen in seinen Zielen! Er hatte den richtigen Text noch nicht gefunden, aber er wollte ein zukunftsweisendes Musik-Drama schreiben. Mit der Oper, die heute sein bekanntestes Werk ist, konnte er sich überhaupt nicht identifizieren: „Die verkaufte Braut“. Er schrieb sie als Unterhaltungsstück in Krisenzeiten, für ein kleines Kammerorchester. Sie wurde unfassbar erfolgreich, über 500 Mal gespielt, und doch wünschte Smetana, dass man sie längst vergessen hätte.
Katja Leclerc
Welche Werke müssten wir zum 200. Geburtstag Smetanas spielen, um den fortschrittlichen Künstler Smetana besser kennenzulernen?
Ivana Rentsch:
Da sind Sie mit einer seiner Sinfonischen Dichtungen – „Ma vlást“ – ganz richtig. Ich würde noch seine Oper „Libuše“ auf die Liste nehmen, wenngleich er nach der Uraufführung zur Einweihung des Tschechischen Nationaltheaters verweigerte, dass sie weiter im Repertoire gespielt würde. Smetana war der Meinung, dass sie als Oper nicht funktioniere. In der Tat war sie eher ein Formexperiment: Es beginnt als Historienoper und endet in einer großen Prophezeiung der Seherin Libuše: Sie sagt aus der Sicht des Mittelalters 300 Jahre voller Tragödien voraus, vom 30-jährigen Krieg bis zur Gegenreformation … Doch am Ende steht die Aussage: das tschechische Volk wird nicht untergehen! Ich habe selbst in einer Aufführung erlebt, wie noch heute das Publikum in Prag in den letzten Klängen aufsteht und klatscht. Die Prophezeiung gestaltete Smetana in Tableaux vivants, in lebenden Bildern ganz ohne Gesang. Das war damals die fortschrittlichste populäre Gattung. Libuše begründete das Geschlecht der böhmischen Könige, und so war die Aufführung zu Smetanas Zeit als Manifest zu verstehen – gegen die Habsburger. Ein Manifest in modernstem ästhetischen Gewand.
Katja Leclerc
Vielen ist heute der geschichtliche Kontext von Smetanas Schaffen nicht mehr präsent. Woran liegt es, dass Kernwerke wie „Ma vlást“ auch unabhängig davon heute noch direkt zu den Zuhörer*innen zu sprechen scheinen? Dass sich viele in diesen Landschaftsbildern, sagenhaften Burgen und martialischen Frauenfiguren wiederfinden?
Ivana Rentsch:
Das konnte nur ein so erfahrener Opernkomponist wie Smetana schreiben. Er hatte einen unfassbar guten Sinn für Timing. Nichts ist zu lang. Er greift topische Klänge auf, Volkstümliches, arbeitet mit teils einfachen Mitteln. Ein Beispiel ist das Thema der „Moldau“, das im Grunde aus einer Tonleiter besteht. Einfach gesagt: Die Musik hat Ohrwurmqualitäten.
Katja Leclerc
Wofür sollten wir Jubiläen nutzen? Wie können sie fruchtbar werden für den Umgang mit unserem Erbe?
Ivana Rentsch:
Jubiläen sind abstrakt und manchmal auch absurd. Wir wurden von dem Tschechischen Kultusministerium und von der Tschechischen Philharmonie gefragt, ob wir eine wissenschaftliche Tagung in Smetanas Geburtsstadt Litomyšl abhalten würden, sodass die zugehörige Publikation zum Jubiläum 2024 fertig werden würde. Ein sportlicher Zeitplan! Aber wir haben es geschafft, ich gehe gerade die zweite Druckfahne durch. Das ist insofern absurd, als der Band 2025 genauso gut und erkenntnisreich wäre wir 2024. Aber Jubiläen erzeugen Aufmerksamkeit, die es ermöglicht, Themen neu in die Debatte einzubringen. Man sollte sie als Chance nutzen, etwas vermeintlich Altbekanntes neu zu erfahren, die Rezeptionsschichten abzutragen, einfach die Ohren zu öffnen und sich zu fragen: Was höre ich eigentlich? Und was sagt mir diese Musik heute? Und dafür, so meine ich, ist die pure Musik im Konzert am besten geeignet.
Ivana Rentsch ist Professorin für Historische Musikwissenschaft an der Universität in Hamburg und arbeitet gerade an der Herausgabe eines Jubiläumsbandes zu Smetanas 200. Geburtstag. Das Gespräch mit ihr führte Katja Leclerc.